Die atemberaubende Schönheit und erschütternde Gewalt auf Jins Reise machen dieses Spiel zu einem unserer Favoriten des Jahres
Meine Samurai-Brüder sind gefallen. Mein Adoptivonkel, Fürst Shimura, kann jeden Moment hingerichtet werden. Alles auf der Insel Tsushima steht entweder in Flammen oder wird von angreifenden Mongolen überrannt. Als einsamer Samurai Jin Sakai ist es meine unbeirrbare Mission, die Insel zurückzuerobern und diese Feinde aus meiner Heimat zu verjagen. Nichts hat größeren Vorrang.
Mit schwerem Seufzen steige ich auf mein treues Ross, zucke beim qualvollen Anblick der Flammen am Horizont zusammen und galoppiere meinem Schicksal entgegen. Nur Sekunden später starre ich auf Mongolen herab, die auf einer staubigen Straße einen braven Bürger drangsalieren, mein unerbittlicher Blick fest auf ihre blutigen Klingen geheftet. Wir kreuzen die Schwerter. Die Mongolen fallen. Ein Leben ist gerettet, und ich breche zu einer Festung auf, in der es nur so wimmelt vor … Moment. Hüpft da etwa ein Fuchs um einen goldenen Baum herum? Ich muss einfach sehen, was es damit auf sich hat.
Die nächsten Stunden verbringe ich damit, Füchse zu streicheln, Blumen zu pflücken und mit offenem Mund die überwältigende Schönheit zu bestaunen, die Ghost of Tsushima aus allen Poren dringt. Ich vergesse jeglichen Sinn für die Dringlichkeit meiner Mission und nehme die Welt um mich herum ganz und gar in mich auf.
Es zeugt von den Naturwundern des Spiels, dass ich Jins lebensverändernden Feldzug der Gerechtigkeit einfach so beiseitezuschieben vermag. Trotz der eingangs erwähnten aufwühlenden ersten Momente und ein paar wirklich entsetzlichen Toden, die meinen unerbittlichen Rachedurst bloß noch weiter anheizten, hat mich die weitläufige Landschaft der Insel stets in ihren Bann gezogen – aber nie nach Art einer typischen Null-acht-fünfzehn-Ablenkung mit abzuhakenden Aufgaben. Das verführerische Arrangement aus gischtgepeitschten Klippen, besinnlichen heißen Quellen, faszinierenden Inari-Schreinen und anderen Weltwundern weckte meine fortwährende Faszination und Neugier bis weit über den Nachspann hinaus … und bis hin zur Platin-Trophäe.
Es wurde schon viel gesagt über die Insel, den beeindruckenden Foto-Modus des Spiels und die farbenfroh schillernden Blätter, die durch die Luft fliegen. Doch man kann gar nicht oft genug betonen, wie sehr einen diese offene Welt in ihren Bann schlägt und wie unglaublich reizvoll es ist, sie einfach nur zu erkunden. Wenn man eine gewaltige Felsformation erklimmt, wird man vielleicht nur mit einer überwältigenden Aussicht belohnt. Doch wieder und wieder hat diese Aussicht (und ein schnelles Foto fürs Erinnerungsalbum) die Reise mehr als wettgemacht.
Für jeden besinnlichen Augenblick, den ich mit der Betrachtung eines Wasserfalls oder der Komposition eines Haikus verbracht habe, gab es auch eine nervenzerreißende Begegnung mit Banditen, Ronins und Mongolen. Jin ist ein fähiger Schwertkämpfer, und so ist man von Anfang an in der Lage, es mit mehreren Gegnern gleichzeitig aufzunehmen. Im Verlauf seiner Reise erlernt Jin neue Kampfhaltungen und erweitert sein Arsenal um heimliches Schleichen und Werkzeuge und kann so mit nur wenigen Attacken fünf, sechs … sogar zehn Gegner ausschalten. Am Ende der Reise war ich ausgesprochen überzeugt von meiner Fähigkeit, geradewegs in ein Lager hineinzumarschieren, jeden in Sichtweite als meiner Aufmerksamkeit unwürdigen Feigling zu betiteln und sie allesamt gnadenlos niederzumähen.
Diese Art der Frontalkonfrontation ist eine ehrenvolle Taktik, die mit Jins Samurai-Hintergrund einhergeht, doch man kann sich auch jederzeit wieder in den Schatten zurückziehen und mithilfe von listigen Geist-Techniken einen Gegner nach dem anderen ausschalten. Ob man nun seinen Widersachern Auge in Auge gegenübertritt oder als der mysteriöse Geist über die Dächer springt – der Kampf fühlt sich in jedem Fall flüssig und intensiv an.
Jins persönliche Reise ist perfekt mit dieser Dualität aus Samurai und Geist verwoben. Nach der Vernichtung seines Klans liegen seiner anfänglichen Rachestrategie eher traditionelle Motive zugrunde, die höchstwahrscheinlich noch mehr Verderben nach sich ziehen würden. Aber Yuna, eine Diebin, die Jin im frühen Spielverlauf rettet, lotst ihn von diesen Frontalangriffen weg. Sie schließen Freundschaft, weil beide für Gerechtigkeit sorgen wollen und aufgrund ihres hybriden Schlachtplans große Verluste hinnehmen müssen. Im Laufe der Zeit trifft Jin auf bedeutende Personen aus seiner Vergangenheit und begegnet neuen Verbündeten, die allesamt daran mitwirken, ihn zu einem neuen Menschen heranreifen zu lassen. Die Nebenrollen – und ihre jeweils eigenen Questreihen – sind eine wahre Freude und eine enorme Bereicherung für das Gefüge und die Emotionen dieser Welt. Was als „Wow, ganz schön viele Nebenquests“ begann, wird schnell zu „Schade, damit ist diese Geschichte wohl zu Ende …“.
Die Kombination aus unvergesslichen Charakteren, erbitterten Kämpfen und einer beschaulichen Weltkarte mit dramatischer Musikuntermalung ergibt ein außergewöhnliches Abenteuer, das zweifellos zu meinen Lieblingsspielen des Jahres zählt.
Kommentare sind geschlossen.