Das Rollenspiel der alten Schule bietet nicht nur für Nostalgiker eine tolle Erfahrung.
Der inoffizielle Vorgänger Planescape: Torment war eine Wucht. Nicht nur, dass das Rollenspiel eine bemerkenswert fantastische Geschichte erzählte, es erweiterte auch den spielerischen Horizont des Genres nachhaltig. In dieselbe Kerbe schlägt nun Torment: Tides of Numenera – von inXile Entertainment äußerst erfolgreich über Kickstarter finanziert -, das die fast schon vergessenen Tugenden des Originals wieder zum Leben erweckt.
Im Gegensatz zum spirituellen Erstling basiert Torment: Tides of Numenera nicht auf dem Pen-&-Paper-Rollenspiel Planescape, sondern auf einer Vorlage von Autor Monte Cook, der in der Vergangenheit bereits an zahlreichen Regelwerken (u.a. auch Planescape) mitwirkte.
Fünf wesentliche Features sorgen dafür, dass dieses Rollenspiel von der breiten Masse unterscheidet und zu etwas ganz Besonderem macht.
1. Stilsicheres Auftreten
Bereits kurz nach dem Start wird klar, dass Torment: Tides of Numenera einen eigenen Zugang wählt. Während andere Rollenspiele mit filmreifer Inszenierung und High-End-Technik überzeugen wollen, erlebt ihr hier die Geschichte des letzten Verstoßenen aus der isometrischen Perspektive, die von der etwas betagten Unity Engine befeuert wird.
Interessanterweise stört dieser vermeintliche Mangel jedoch nicht, setzt der Titel stattdessen doch auf einen ausgeprägten Stil und herausragendes Design der Spielwelt sowie auf sehr umfangreiche, spannende Dialoge. Dabei verdient die Art Direction besonderes Lob, welche von der gelungenen Gestaltung sämtlicher Charaktere über die dargestellte Welt bis hin zu kleinsten Details stets einen unerschütterlich guten Geschmack beweisen.
Die Interaktion mit anderen Personen steht eindeutig im Vordergrund, während die dargestellte Welt – sei sie auch noch so charmant – letztlich vor allem einen passenden Rahmen für die Narration schaffen will. Dabei wird schnell klar, dass hier alles wie aus einem Guss zu sein scheint, und was euch garantiert immer wieder in großes Staunen versetzen wird.
Apropos: Auch einem weiteren Trend versperrt sich das RPG-Schwergewicht. Denn anstatt in einer offenen Welt zu spielen, ist der Titel in einzelne Abschnitte unterteilt, was dem speziellen Fokus des Abenteuers aber sogar zuträglich ist.
2. Erzählerische Größe
Torment: Tides of Numenera mag für ein Rollenspiel der alten Schule nicht sonderlich lang sein (knapp 30 Spielstunden), doch der Inhalt kann sich sehen lassen. Denn was die Entwickler mit ihrem verhältnismäßig kleinen Budget inhaltlich ins Spiel gepackt haben, ist erstaunlich.
Einen Hang zum exzessiven Lesevergnügen solltet ihr jedoch schon mitbringen, wenn ihr euch in die Welt von Torment begebt; wer alle die Zusammenhänge und Hintergründe der Geschichte begreifen möchte, wird viel und vor allem genau lesen müssen. Aber das ist in diesem Fall geradezu ein Geschenk, zählt die Narration des Titels doch zur absoluten Elite der Videospielwelt.
Überhaupt solltet ihr auf jeden kleinen Hinweis achten, ansonsten verpasst ihr einiges. Denn auch in zunächst recht unspektakulär wirkenden Gesprächen können letzten Endes wichtige Informationen, Belohnungen oder gar neue Quest-Reihen schlummern. Faszinierend, wie all diese Missionen miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen.
Dazu kommt, dass auch praktisch alle Nebenstränge herausragend geschrieben sind und zum Teil philosophische Fragen aufwerfen, die zum Nachdenken anregen. All das ergibt ein rundes, in sich geschlossenes Konzept.
3. Vielfältige Optionen
Torment: Tides of Numenera fühlt sich phasenweise wie ein interaktiver Roman an. Seine spannenden (und nicht selten ziemlich schrulligen) Figuren haben euch viel zu erzählen. Praktisch, dass das Spiel glücklicherweise über ein sehr gelungenes Multiple-Choice-System verfügt.
Mit dessen Hilfe können die unterschiedlichsten Antworten getätigt werden, während selbstverständlich auch Überredung, Betörung und Einschüchterung regelmäßig eine Option darstellen. Zudem könnt ihr dadurch entscheiden, wie sich die Geschichte in der Folge entwickeln soll; was dabei letztendlich aber heraus kommt, ist nicht so vorhersehbar wie es zunächst scheint.
Dabei kommen gleich mehrere raffinierte Mechanismen zum Tragen. So könnt ihr durch drei verschiedene Arten von limitierten Aktionspunkten (Stärke, Geschwindigkeit, Intellekt) einsetzen, um euch während verschiedener Interaktionen Vorteile zu verschaffen oder sogar Begleiter einschreiten zu lassen. Wollt ihr etwa eine Tür mit roher Gewalt aufbrechen, könnt ihr durch Aktionspunkte – in diesem Fall der Stärke – die Wahrscheinlichkeit auf einen Erfolg erheblich steigern.
Da sich diese Punkte aber lediglich durch Schlafen wiederherstellen, sollte deren Einsatz wohl überlegt sein; schließlich ist eine erholsame Nachtruhe nicht stets garantiert bei diesem knochenharten Alltag eines Abenteurers. Hinzu kommt, dass eure Entscheidungen Einfluss auf die Umwelt und deren Bewohner nehmen, die wiederum entsprechend reagieren.
4. Wahl der Waffen
Die bemerkenswert große Entscheidungsfreiheit ist hier noch nicht zu Ende. Denn in Torment: Tides of Numenera steht ihr regelmäßig vor der Wahl, wie ihr die zahlreichen Konflikte in jener Fantasy-Welt zu lösen gedenkt. Während in den meisten anderen Rollenspielen die Kämpfe eindeutig im Vordergrund stehen und bei gröberen Unstimmigkeiten schnell Blut fließt, ist es hier in den meisten Fällen lediglich eine von mehreren Optionen.
Vielmehr hängt es von eurem Verhandlungsgeschick in Dialogen und euren Charakterwerten ab, ob bzw. wie ihr euch aus brenzligen Situationen rettet. Dazu kommt, dass ihr von bis zu drei weiteren Helden begleitet werdet, die – ebenfalls ihrer Selbst bewusst – sich ganz unterschiedlich verhalten und nicht immer mit euren Ideen, Absichten und Taten einverstanden sind. Und wehe dem, der dann auch noch innerhalb der Gruppe Streit schlichten muss.
Falls dennoch mal all eure Redekunst nichts auszurichten vermag (oder ihr einfach mal kämpfen wollt, es also darauf anlegt), wechselt das RPG vom Echtzeit- in den taktischen Rundenmodus. Wie von anderen Old-School-Werken des Genres gewohnt, zieht ihr abwechselnd euren Helden sowie die Begleiter, während die feindlichen Einheiten von der KI übernommen werden. Diese Scharmützel sind anspruchsvoll – manchmal sogar ziemlich schwierig – und werden Taktik-Füchse glücklich machen.
Doch auch in jenen Situationen sind Ablenkung oder Flucht meist eine kluge Alternative, wobei gelegentlich auch während einer tätlichen Auseinandersetzung mit Worten – buchstäblich in letzter Sekunde – der Konflikt noch friedlich beigelegt werden kann. Ein überaus raffinierter und erfrischend anderer Zugang zum Thema.
5. Scheitern mit Sinn
Mit all seinen erzählerisch überragenden Quests und seiner Fülle an feinen Ideen, wird euch das Rollenspiel immer tiefer in seinen Bann ziehen. Stets regt es dazu an, die Zusammenhänge dieser eigenartigen Welt mitsamt ihrer Bewohner zu ergründen, während ihr – sei es nun bewusst oder eben auch unbewusst – eure ganz persönliche Geschichte schreibt. Zwar wird eine gewisse Linie vorgegeben, doch besitzt ihr auf diesem gewundenen Pfad überraschend viel moralische Freiheit.
Dabei gelingt es dem Titel, beinahe immer auf eine Bestrafung zu verzichten. Sogar der Tod bedeutet nicht das Ende: Falls ihr im Laufe des Abenteuers einmal das Zeitliche segnet, findet ihr euch in einer mysteriösen, verwinkelten Ebene wieder. Von dort ist es stets möglich, den Weg zurück in die eigentliche Spielwelt zu finden; und gegen Ende der Geschichte könnt ihr in jener bedrückenden Umgebung sogar ganz spezielle Abenteuer erleben.
Torment: Tides of Numenera richtet – anders als fast alle anderen Vertreter – seinen Fokus auf kleine, oftmals ziemlich leise Aspekte. Seine Schwerpunkte sind dabei eine packend erzählte Geschichte voller rätselhafter Charaktere sowie eine bemerkenswert große spielerische Entscheidungsfreiheit, die dieses Abenteuer in einer eigenen Liga spielen lassen. Seine Geschehnisse werden euch mit Sicherheit einige Zeit beschäftigen – selbst nachdem das Spiel längst bezwungen ist.
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