Nach 10 Jahren blicken wir zurück auf den packenden Soundtrack des Action RPGs.
Manchmal entwickelt sich die Musik aus einem Videospiel zu viel mehr als nur einem Soundtrack. Ein schneller Blick auf die Zahlen der Musik-Streaming-Dienste belegt, dass bestimmte Titelmelodien den Spielern noch über den Abschluss des Spiels hinaus im Ohr bleiben.
Mir ist bei NieR genau das Gegenteil passiert. Der Soundtrack hat mich schon begeistert, noch bevor ich das Spiel überhaupt gespielt hatte. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als ein Freund ihn mir empfohlen hat. Und wie er mich schon beim ersten Anhören fasziniert und in seinen Bann gezogen hat. Ich konnte schon alle Songs auswendig, als ich schließlich das Spiel spielte, und werde nie dieses einzigartige Erlebnis vergessen, als ich entdeckt habe, wo im NieR-Universum diese ätherischen Songs vorkommen. Der Soundtrack entfaltete sich langsam vor meinen Augen bzw. Ohren und fand sich an seinen zugedachten Bestimmungsorten inmitten der erlesenen Story, Landschaften und Charaktere von NieR ein. Wie die Teile eines Puzzles, die letztendlich zusammenfinden und das große Ganze erkennen lassen. Eine musikalische Schatzjagd.
Ich bin bei weitem nicht der Einzige, bei dem diese bewegende Musik für immer Spuren hinterlassen hat. Der Soundtrack von NieR, komponiert von Keiichi Okabe und gesungen von Emi Evans, wurde unglaublich positiv aufgenommen und von allen Seiten gelobt.
Eines der vielleicht einzigartigsten Elemente waren die von Emi improvisierten, erfundenen Lyrics. Diese so treffend als „Chaossprache“ betitelten Zeilen klingen, als hätten sich unsere modernen Sprachen Tausende Jahre von uns wegbewegt, sodass wir sie schließlich nicht mehr verstehen können. „Wir haben uns deshalb für diese geheimnisvolle Fantasiesprache in den Songs entschieden, weil wir fanden, dass Lyrics, die man erkennt und versteht, vielleicht vom Gameplay ablenken könnten“, erklärte Yoko Taro, der Game Director, mir, als ich ihn 2017 vor der Veröffentlichung der NieR-Fortsetzung NieR:Automata traf. „Wir wollten etwas, das den Charakter einer echten Hintergrundmusik besitzt. Wenn man nicht weiß, was diese geheimnisvollen Worte bedeuten, können sie einen auch nicht ablenken.“
Für Emi war das die Gelegenheit, etwas völlig Neues auszuprobieren. „Ich war schon immer von Sprachen fasziniert, darum war diese Aufgabe besonders reizvoll für mich und ich habe diese neue Herausforderung sehr begrüßt“, schrieb sie als Antwort auf einige Fragen, die ich ihr per E-Mail schicken konnte. Mit der neuen überarbeiteten Version von NieR Replicant, das Anfang nächsten Jahres auf PS4 erscheinen soll, war der perfekte Zeitpunkt gekommen, sich diesen Soundtrack und Emis Arbeit als Sängerin und Texterin bei diesem einzigartigen Projekt noch einmal genauer anzusehen. „Da ich mir zum ersten Mal eine Fantasiesprache ausdenken musste, gab es auch kein System, an dem ich mich hätte orientieren können. Also habe ich bei meinem ersten Versuch einfach alle möglichen Laute aus allen Sprachen zusammengemischt, die ich je gehört hatte. Dabei herausgekommen sind die Lyrics zu ‚Song of the Ancients‘.“
„Man zeigte mir einen kurzen Ausschnitt mit Devola und Popola und sagte mir, dass es ihre Erkennungsmelodie werden sollte. Das war der allererste Song, den ich für NieR aufgenommen habe, und mein erster Versuch, eine Fantasiesprache zu erschaffen. Er enthält deutsche, ungarische, walisische, japanische, französische und lateinische Laute sowie ein paar, die ich mir selbst ausgedacht habe!“
Song of the Ancients – Devola
„Mir gefiel, was ich geschrieben hatte, aber ich merkte schnell, dass das Ergebnis jedes Mal ähnlich klingen würde, wenn ich einfach nur beliebige Laute miteinander kombinieren würde. Um jedem Song anders klingende Lyrics und einen ganz eigenen Charakter zu verpassen, musste ich mir eine neue Methode überlegen.“
„Ich besprach meine Bedenken mit dem Team und ich glaube, es war Okabe-san, der die wunderbare Idee hatte, jedem Song eine wirklich existierende Sprache zugrunde zu legen und sich vorzustellen, wie diese Sprache Tausende von Jahren in der Zukunft klingen könnte.“
Mit Ausnahme von „Song of the Ancients“ wurde der restliche Soundtrack von NieR Gestalt/Replicant von real existierenden Sprachen inspiriert, was jedem Titel eine ganz einzigartige Stimmung und Atmosphäre verleiht. Emi begann mit der Arbeit an den Lyrics zu den einzelnen Songs, die sie auf dem Soundtrack singt, indem sie sich gründlich in jede der Sprachen einarbeitete.
„Sofern ich nicht schon eine bestimmte Vorgabe habe, fange ich damit an, dass ich mich als Erstes für eine Sprache entscheide. Für gewöhnlich höre ich mir die Musik an und wenn ich die Stimmung des Songs erfasst habe, recherchiere ich, bis ich eine Sprache finde, die meiner Meinung nach gut dazu passen würde. So habe ich bei einem Song vielleicht das Gefühl, dass eine sanfte, fließende Sprache am besten dazu passt, und bei einem anderen suche ich eher eine rauer klingende Sprache mit vielen Kehllauten und harten Konsonanten. Gelegentlich vermische ich auch zwei Sprachen, aber in der Regel ist es nur eine. Sobald die Sprache feststeht, gehe ich auf YouTube und suche mir Aussprache-Tutorials und Darbietungen in dieser Sprache, um herauszufinden, welche bestimmten Laute charakteristisch für diese Sprache sind, damit ich sie nachahmen kann.“
„Ich schreibe auf, was ich heraushöre, und sammle ungefähr eine Seite voll mit den Lauten, die ich erkennen konnte. Dann setze ich alles willkürlich zusammen, verändere die Laute ein wenig und tausche hier und da ein paar Buchstaben aus, sodass alles einen harmonischen Klang ergibt und sich perfekt in die Melodie einfügt. Dann singe ich die Worte wieder und wieder, verändere sie und passe sie an, bis sie mir angenehm und ganz natürlich von der Zunge rollen. Schließlich gehe ich noch mal auf YouTube und überprüfe meine Aussprache!“
„Da ich keine Muttersprachlerin dieser Sprachen bin, kann ich mir nur schwer vorstellen, wie meine Worte in den Ohren von Muttersprachlern klingen, aber den Online-Kommentaren nach zu urteilen, scheinen die Menschen viele meiner Pseudosprachen zu erkennen, also scheine ich wohl irgendetwas richtig zu machen!“
Fasziniert von diesem Prozess habe ich Emi gebeten, zu beschreiben, was sie zu einigen ausgewählten Titeln des originalen Soundtracks inspiriert hat, die meiner Meinung nach großartige Beispiele für ihre Stimme und ihr linguistisches Werk sind:
Grandma
„Okabe-san hatte mich gebeten, bei ‚Grandma‘ Französisch als Grundlage zu nehmen. Er erklärte mir, dass dieser Song den Kampf gegen einen superstarken Boss untermalen sollte, der die Figur schwächt, indem er sie seine schmerzlichsten Erinnerungen erneut durchleben lässt. Also habe ich beim Singen meine Kehle geöffnet und ganz zart die wunderschönen hohen Töne wie eine Wehklage klingen lassen. Das Playback meines Gesangs zu ‚Grandma‘ zum ersten Mal zu hören, war einer der unvergesslichen Studio-Augenblicke bei NieR Replicant. Ich hatte das Stück gerade erst am Vortag erhalten. Da ich noch nicht damit vertraut war, konnte ich mir nicht vorstellen, wie es werden würde. Doch in nur sehr kurzer Zeit verwandelte sich der Song irgendwie in ein wunderschönes und trauriges Stück, das mir Gänsehaut bescherte!“
The Wretched Automatons
„The Wretched Automatons‘ hat Spaß gemacht und ist mir von allen Songs am leichtesten gefallen, weil man mich gebeten hatte, ihn auf meiner Muttersprache – Englisch – aufzubauen. Ich habe einfach alle Wörter zusammengefügt, die für mich besonders schön klingen, sie so verändert, dass sie keine Bedeutung mehr hatten, und sie dann möglichst ‚cool‘ ausgesprochen. Es hieß, der Song wäre für einen großen Metallschrotthaufen, wo die Spieler von Robotern angegriffen werden, doch das Arrangement war [zu der Zeit] sehr schlicht und ohne Schlaginstrumente. Ich war sehr überrascht, als der OST erschien, und konnte kaum glauben, wie sehr sich dieser Song gewandelt hatte!“
Kainé
„Für ‚Kainé‘ sollte ich Gälisch verwenden. Es hat mir sehr viel Freude gemacht, mich in diese Sprache einzuarbeiten, und ich habe festgestellt, dass irgendetwas an den Vokalen und ‚R‘-Lauten diese Sprache sehr schön klingen lässt. Als man mir später sagte, dass Kainé als Charakter eher unkultiviert und gleichzeitig wunderschön sei, fand ich, dass die Lyrics das perfekt widerspiegeln. ‚Kainé‘ ist der Song, der die Fans offenbar am stärksten zu Tränen rührt, besonders, wenn ich ihn live performe, aber für mich wird er immer ein erhebender Song voller Zärtlichkeit und Kraft bleiben.“
Welche jeweilige Sprache nun auch Inspiration für die einzelnen Songs gewesen ist, durch Emis Fantasietexte klingt der gesamte Soundtrack noch ätherischer. „Bei NieR hat die ‚Chaossprache‘ auf jeden Fall enorm viel dazu beigetragen, ein Gefühl von Traurigkeit, Verzweiflung, Frieden und Mysterium zu vermitteln, aber bei anderen Projekten habe ich festgestellt, dass sie ebenso hervorragend bei hoffnungsvollen, aufbauenden Songs funktioniert – selbst bei sanften, freudigen Songs.“
„Eins habe ich über die Verwendung von Fantasiesprachen gelernt: Da sie keine Bedeutung haben, bleibt es ganz der Fantasie des Zuhörers überlassen, die Gefühle des Songs zu interpretieren. Ich finde, dass sie im Gegensatz zu Lyrics, die tatsächlich etwas bedeuten, ein viel größeres Potenzial besitzen, tiefe, persönliche Gefühle zu wecken. In ‚Chaossprache‘ zu singen, gibt mir die Möglichkeit, mich allein durch meinen Tonfall offen und ehrlich auszudrücken, ohne das Gefühl zu haben, dass die Worte mich einschränken oder mir im Weg stehen. Vielleicht überträgt sich die Katharsis, die ich beim Singen empfinde, auf einzigartige und positive Weise ja auch auf den Zuhörer.“
„Ich erinnere mich noch daran, als wir die Titel für NieR Replicant aufgenommen haben und ich zum ersten Mal in ‚Chaossprache‘ gesungen habe: Wie aufgeregt und fasziniert ich war, zu erleben, wie jeder einzelne Song im Studio erblüht ist. Auf dem Papier waren die Texte nur eine Abfolge von bedeutungslosen, aneinandergereihten Lauten, doch sobald ich anfing, sie zu singen und die Spuren zu mischen, erwachten diese Texte plötzlich zum Leben und nahmen ganz von allein Bedeutung und Persönlichkeit an. Zu hören, wie sich der Text jedes Songs auf diese Weise verwandelte, beinahe ohne, dass ich es steuern konnte, war unglaublich spannend.“
NieR Replicant Ver.1.22474487139…, das Remake des Originals, erscheint im April 2021 mit neu aufgenommenen Versionen der Songs aus dem Original-Soundtrack. Als ich Emi fragte, wie sie sich dabei fühlt, nach einem Jahrzehnt wieder an diesem Projekt zu arbeiten, schrieb sie:
„Bei den Aufnahmen damals war ich noch ziemlich unsicher, weil ich nicht wusste, wie meine Fantasietexte oder auch meine Stimme bei den Spielern ankommen würden. Auch war der Zeitdruck sehr groß, sodass ich die Titel manchmal erst am Tag vor der geplanten Aufnahme zu hören bekam und mich quasi über Nacht mit ihnen vertraut machen und die Texte dazu schreiben musste. Ich weiß noch, dass ich im Studio die meiste Zeit über sehr müde war und Angst hatte, dass das, was ich geschrieben hatte, nicht gut genug wäre.“
„All diese Songs, die mir so ans Herz gewachsen sind, jetzt also voller Selbstvertrauen – dank der Liebe, die die Fans über die Jahre zum Ausdruck gebracht haben – neu aufnehmen zu können, ist wirklich ein Traum, der wahr geworden ist. Ich glaube nicht, dass sich meine Stimme oder auch die Art, wie ich performe, in diesen vergangenen zehn Jahren sehr verändert hat, aber diesmal empfand ich beim Aufnehmen jedes einzelnen Songs so große Dankbarkeit und Liebe. Ich hoffe, dass die Musik dadurch noch mehr Tiefe bekommt, die auch die Fans spüren können!“
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